Bildstrecke
Mohammed Salem / Reuters
Seit 1955 werden im Rahmen des World Press Photo Contest professionelle Fotografen für die besten Bilder ausgezeichnet. Ein Einblick in das Schaffen der Fotografen und eine Auswahl der Siegerbilder.
Elena Panagiotidis, Reto Gratwohl
12 min
Die globalen Gewinner des World Press Photo Contest stehen fest: Sie zeigen Verlust in verschiedenen Facetten. Eine Tante, die in Gaza um ihre tote Nichte trauert. Eine Tochter in Madagaskar, die ihren Vater an die Demenz verliert. Migranten aus Süd- und Mittelamerika, die auf dem Weg in die USA in mexikanischen Grenzstädten gestrandet sind.
Zum dritten Mal hat der Wettbewerb in überarbeiteter Form und in zwei Schritten stattgefunden. Seit 2022 zeichnet die Jury in einem ersten Schritt die kontinentalen Sieger in vier Kategorien aus, um dann daraus die globalen Gewinnerbilder zu küren. Mit diesem neuen System sollen Fotografen aus allen Teilen der Welt die gleichen Chancen auf eine Auszeichnung erhalten. Ein Einblick in die Arbeit der Siegerinnen und Sieger:
«World Press Photo of the Year»
«A Palestinian Embraces the Body of Her Niece»
Mohammed Salem
Palästina, Reuters
Die palästinensische Terrorgruppe Hamas ist am 7.Oktober 2023 auf israelisches Territorium vorgedrungen, hat Zivilisten getötet, einige von ihnen als Geiseln genommen und damit einen Krieg ausgelöst. Seitdem kommt es zu massiven Kampfhandlungen im dichtbesiedelten Gazastreifen, denen auch Zivilisten zum Opfer fallen. Das Bild zeigt Inas Abu Maamar, wie sie ihre tote Nichte in den Armen hält. Die Fünfjährige war bei einem israelischen Angriff getötet worden. Maamar verlor bei dem Angriff vier weitere Familienmitglieder.
Der Fotograf Mohammed Salem beschreibt dieses Foto als einen «kraftvollen und traurigen Moment, der das allgemeine Gefühl dessen, was im Gazastreifen geschah, auf den Punkt bringt». Die Jury hat ihn dafür mit dem Preis für das beste Pressefoto weltweit ausgezeichnet.
«World Press Photo Story of the Year»
«Valim-babena»
Lee-Ann Olwage
Südafrika, «Geo»
Lee-Ann Olwage hat Szenen aus dem Leben des 91-jährigen Paul Rakotozandriny festgehalten, der seit Jahren unter Demenz leidet. In Madagaskar ist die Krankheit wegen fehlender Aufklärung der Bevölkerung noch oft mit einem Stigma behaftet. Rakotozandrinys Tochter Fara Rafaraniriana kümmert sich um ihren Vater und lebt das madagassische «Valim-babena»-Prinzip, die Pflicht erwachsener Kinder, sich um ihre Eltern zu kümmern.
Die Fotoserie breche mit den typischen Stereotypen rund um Afrika, die sich vor allem an Konflikten orientierten, sagt die Jury. Gleichzeitig betreffe das Thema Millionen Familien weltweit. Laut der Weltgesundheitsorganisation sind 55 Millionen Menschen auf der Welt dement, 60 Prozent der Betroffenen leben in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen.
«World Press Photo Long-term Project Award»
«The Two Walls»
Alejandro Cegarra
Venezuela, «The New York Times» / «Bloomberg»
Tausende von Migranten werden täglich an der Grenze zwischen Mexiko und den USA abgefangen. Die meisten stammen aus Süd- und Mittelamerika und erhoffen sich ein besseres Leben in den USA. Viele stranden in den Grenzstädten Mexikos. Der Fotograf Alejandro Cegarra hat einige auf ihrer Reise begleitet. 2017 ist er selbst aus Venezuela nach Mexiko ausgewandert. Ein Jahr später begann er, die Etappen der Migranten auf ihrem Weg gen Norden zu dokumentieren.
Seine Aufnahmen zeigen, wie sie Zäune übersteigen, Flüsse durchwaten und vor Behörden ausharren. Und wie sie sich nicht abbringen lassen, obwohl sowohl Mexiko als auch die USA ihre Einwanderungspolitik in der Zwischenzeit verschärft haben.
Die Bilder seien zugleich schonungslos und respektvoll, so die Meinung der Jury. Cegarra stelle die Handlungsfähigkeit und die Resilienz der Migranten in den Fokus. Das gelinge ihm wohl, weil er selbst Migrant sei.
Regionale Gewinner
AFRIKA
«The Escape»
Zied Ben Romdhane
Tunesien, Magnum
Die Revolution in Tunesien im Jahr 2011, die den Arabischen Frühling auslöste, weckte bei vielen Tunesiern Hoffnung auf Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit. Doch die Jahre danach waren von politischer Instabilität und Wirtschaftskrisen geprägt, die besonders die Perspektiven der Jungen – über 40 Prozent der Bevölkerung sind zwischen 15 und 34 Jahre alt – zunichtemachen. Zied Ben Romdhane porträtiert in der Kategorie «Long-Term Projects» das Leben dieser Generation.
«Returning Home from War»
Vincent Haiges
Germany, Real 21
Kategorie «Singles»: Durch den Tigray-Krieg in Äthiopien, der von 2020 bis zum Waffenstillstand im November 2022 wütete, sind über eine halbe Million Menschen durch unvorstellbare Gewalt ums Leben gekommen.
Beeindruckt von der Entschlossenheit des Tigray-Defense-Forces-Kämpfers Kibrom Berhane, in seinen Alltag zurückzukehren, wollte der Fotograf Vincent Haiges die Nachwirkungen des Krieges zeigen und dessen verborgene Folgen aufdecken.
«Adrift»
Felipe Dana und Renata Brito
Brasilien, Associated Press
Im Mai 2021 wurde vor der Küste der Karibikinsel Tobago ein Boot aus Mauretanien voller männlicher Leichen gefunden. Wer waren diese Männer, und warum befanden sie sich auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans? Zwei Bildjournalisten machten sich auf die Suche nach Antworten und stiessen dabei auf eine Geschichte über Migranten aus Westafrika, die über eine zunehmend beliebte, aber tückische Atlantikroute nach Europa gelangen wollen. Viele kommen nie an, da ihre Schiffe auf gefährlichen Strömungen treiben, die diese «Geisterschiffe» in die Karibik bringen. Die Reporter sammelten forensische Beweise und identifizierten mithilfe ihres Netzwerks von Quellen auf drei Kontinenten einen der Männer als Alassane Sow, was seiner Familie in Mali einen Schlussstrich ermöglichte.
«Survivors»
Arlette Bashizi
«The Washington Post»
Kategorie «Honorable Mention»: Zwei Jahre dauerte der Bürgerkrieg in der nordäthiopischen Region Tigray. Über eine halbe Million Menschen kamen ums Leben, Millionen Menschen hungern, Zehntausende Frauen wurden Opfer sexueller Gewalt. Wegen des Stigmas, das mit Vergewaltigung in Äthiopien einhergeht, wurden viele von ihnen von ihren Familien und Gemeinschaften verstossen.
Regionale Gewinner
ASIEN
«Afghanistan on the Edge»
Ebrahim Noroozi
Iran, Associated Press
Kategorie «Stories»: Seit die Taliban im August 2021 die Macht über Afghanistan wieder übernommen haben, steht das ohnehin zerstörte Land vor dem endgültigen wirtschaftlichen Kollaps. Die ausländische Hilfe wurde eingestellt, das Land wird von einer Dürre geplagt und hat zwei verheerende Erdbeben erlebt.
Die Jury war der Meinung, dass diese «eindringliche, auf den Menschen bezogene Geschichte» zeige, wie Fotografen «die Realitäten von sich überschneidenden Krisen darstellen» könnten.
Regionale Gewinner
EUROPA
«Kakhovka Dam: Flood in a War Zone»
Johanna Maria Fritz
Deutschland, Ostkreuz, «Die Zeit»
Kategorie «Stories»: Nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms am 6.Juni 2023 im Süden der Ukraine überfluteten die Wassermassen Dutzende Dörfer und Städte. Rund 17500 Häuser sowohl auf dem ukrainisch kontrollierten Westufer als auch auf dem von Russland kontrollierten Ostufer des Flusses wurden zerstört.
«No Man’s Land»
Daniel Chatard
Deutschland, Frankreich
Kategorie «Long-Term Projects»: Die Europäische Union hat sich das Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken und bis 2050 auf null zu reduzieren. Der Fotograf Daniel Chatard dokumentiert innovative Technologien, die mögliche Wege zu diesen Zielen aufzeigen. In seiner Arbeit «Niemandsland» hält Chatard die Auseinandersetzung um den Kohleabbau in Nordrhein-Westfalen fest.
«A Father’s Pain»
Adem Altan
Türkei, AFP
Im türkisch-syrischen Grenzgebiet ereigneten sich am 6.Februar mehrere starke Erdbeben, die eine Stärke von bis zu 7,8 erreichten. Über 55000 Personen kamen ums Leben, mehr als drei Millionen verloren ihr Zuhause. Zu den Faktoren, die zu der hohen Zahl der Todesopfer beitrugen, gehörten schlecht und teilweise illegal errichtete Gebäude sowie die Uhrzeit des Bebens, als viele Menschen noch schliefen. Das Bild des türkischen Fotografen Adem Altam über den «Schmerz eines Vaters» fällt in die Kategorie «Singles».
«War is Personal»
Julia Kochetova
Ukraine
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht in sein drittes Jahr. Mittlerweile sind Zehntausende zivile und militärische Opfer zu beklagen. Die Fotografin Julia Kochetova hat eine persönliche Website eingerichtet, die Fotojournalismus mit dem persönlichen Dokumentarstil eines Tagebuchs verbindet, um der Welt zu zeigen, wie es ist, mit Krieg als alltäglicher Realität zu leben.
Regionale Gewinner
NORD- UND ZENTRALAMERIKA
«The First Climate Refugees of the United States»
Sandra Mehl
Frankreich
Kategorie «Honorable Mentions»: Über 140 Millionen Klimaflüchtlinge könnte es laut Schätzungen der Weltbank bis zum Jahr 2050 geben. Der Klimawandel bedroht die Existenzgrundlagen von immer mehr Menschen weltweit. Die Fotografin Sandra Mehl hat «die ersten Klimaflüchtlinge der USA» porträtiert. Sie stammen von der Isle de Jean-Charles im amerikanischen Gliedstaat Louisiana. Die Insel befindet sich in der Terrebonne Bay, die in den Golf von Mexiko übergeht. Anfang des 19.Jahrhunderts besiedelten Indigene von den Stämmen der Biloxi, Chitimacha und Choctaw die Insel. Französische Siedler folgten wenig später.
Doch die rund 130 Kilometer südlich der Küste von New Orleans gelegene Insel versinkt aufgrund von Erosion, die durch den Klimawandel und Offshore-Erdölbohrungen noch verstärkt wird, im umliegenden Bayou. Seit 1955 hat sie rund 98 Prozent der Oberfläche verloren und ist nur noch etwa 3 Kilometer lang und 300 Meter breit.
Seit 2016 hat Louisiana Mittel in Millionenhöhe investiert und innerhalb von sechs Jahren 30 Haushalte von der Insel in das 65 Kilometer entfernte Städtchen Gray umgesiedelt. Die Fotografin Sandra Mehl besuchte die Insel in diesem Zeitraum sieben Mal, um die Umsiedlung zu dokumentieren und an das Ende der französischsprachigen indianischen Gemeinschaft Biloxi-Chitimacha-Choctaw zu erinnern.
Regionale Gewinner
SÜDAMERIKA
«Red Skies, Green Waters»
Adriana Loureiro Fernandez
Venezuela, «The New York Times»
Kategorie «Stories»: Um die Jahrtausendwende war das erdölreiche Venezuela ein wohlhabender Staat. Doch diese Zeiten sind aufgrund von politischer Instabilität, Misswirtschaft und Sanktionen längst vorbei. Mittlerweile leben über 80 Prozent der Bevölkerung in Armut. Die veraltete Infrastruktur in der Erdölindustrie und der Ausstoss von Methan haben die Umwelt verwüstet und das soziale Gefüge des Landes beschädigt.
Regionale Gewinner
SÜDOSTASIEN UND OZEANIEN
«Fighting, Not Sinking»
Eddie Jim
Australien, «Sydney Morning Herald»
In den 1940er Jahren wanderten mehrere Familien von der Insel Vitupu in Tuvalu aufgrund der Überbevölkerung auf die Fidschi-Insel Kioa aus. Mittlerweile leben 500 Personen auf Kioa, doch ihre auf Fischerei und Landwirtschaft basierende Lebensgrundlage wird durch den steigenden Meeresspiegel bedroht. In den kommenden Jahren werden die Einwohner gezwungen sein wegzuziehen.
Die Jury zeigt sich besonders beeindruckt von der Visualisierung des Meeresspiegelanstiegs und der Darstellung der Zuneigung zwischen den Generationen, die ihr Erbe weitergeben.
«Revolution in Myanmar»
Ta Mwe
Myanmar, Sacco Photo
Kategorie «Long-Term Projects»: Seit die Militärjunta nach einem Putsch Anfang 2021 in Myanmar an die Macht gekommen ist, ist die Situation im Land ausser Kontrolle. Die landesweiten Proteste gegen die Junta wurden vom Militär gewaltsam unterdrückt. Der anschliessende bewaffnete Widerstand gegen die von den Volksverteidigungskräften (PDF) angeführte Militärjunta hat sich zu einem Bürgerkrieg entwickelt. Die militärischen Auseinandersetzungen haben desaströse Auswirkungen: Von den 54 Millionen Einwohnern waren Ende Dezember 2023 rund 2,6 Millionen auf der Flucht.
Die Jury würdigte die Courage und den emotionalen Einsatz des Fotografen, der unter grossen persönlichen Risiken den beharrlichen Kampf der Menschen festgehalten hat.
JURY SPECIAL MENTIONS
In diesem Jahr hat die Jury die Entscheidung getroffen, zwei besondere Erwähnungen in die Auswahl für den World Press Photo Contest 2024 aufzunehmen. In der Begründung heisst es: «Diese beiden lobenden Erwähnungen spiegeln die Schwere des Krieges zwischen Israel und der Hamas im Jahr 2023, das extreme Leid der Zivilbevölkerung und die globalen politischen Auswirkungen wider. ... Wir möchten auch den Fotografen, die über diesen Krieg berichten, unsere Anerkennung aussprechen, denn sie sind einem enormen Mass an Trauma, Risiko und persönlichem Verlust ausgesetzt, insbesondere in Gaza.»
«The Aftermath of the Supernova Festival Attack»
Leon Neal
Vereinigtes Königreich, Getty Images
Ein Angehöriger der israelischen Sicherheitskräfte steht am 12.Oktober 2023 auf dem Gelände des Supernova-Musikfestivals. 364 junge Besucher des Festivals wurden hier am 7.Oktober von Hamas-Terroristen bestialisch ermordet. Bei den Pogromen vom 7.Oktober massakrierten Palästinenser rund 1200 Menschen, verletzten über 2500 und verschleppten rund 250 in den Gazastreifen.
«Israeli Airstrikes in Gaza»
Mustafa Hassouna
Palästina, Anadolu Images
Eine Einwohnerin von al-Zahra geht am 19.Oktober 2023 durch die Trümmer von Häusern, die bei israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen zerstört wurden.
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